Emil J. Gumbel (Kurzbiographie)
Geboren in München 1891 in ein wohlhabendes liberal-jüdisches Elternhaus, verlebte Gumbel eine für das aufgeschlossene Münchner Lehel typische Kindheit. Nach seiner Schulzeit in St. Anna und am Wilhelmsgymnasium studierte er an der LMU Mathematik und Nationalökonomie und wurde 1914 zum Doktor der Staatswissenschaften (Dr.oec.publ.) promoviert. Wie viele seiner Altersgenossen war Gumbel zunächst Kriegsfreiwilliger, wandelte sich aber unter den fürchterlichen Eindrücken, dem Tod seines Bruders und seines Cousins und durch den Einfluss seines Onkels Abraham, der sich in antimilitaristischen Kreisen einen Namen gemacht hatte, innerhalb weniger Monate zum „militanten Pazifisten“. Als frühes Mitglied entsprechend publizistisch agierender Vereinigungen wie dem „Bund Neues Vaterland“ knüpfte er noch während des Krieges Freundschaften zu prominenten Gleichgesinnten, darunter Carl von Ossietzky, Albert Einstein und Kurt Tucholsky. Diese Verbindungen sollten oft ein Leben lang halten. Das Engagement für pazifistische und sozialistische Ziele war in den unsicheren Jahren der frühen Weimarer Republik indes lebensgefährlich, nur rein zufällig entging er 1919 einer standrechtlichen Erschießung durch Soldaten einer Schützendivision.
Wie ein Paukenschlag wirkte sein Buch „Zwei Jahre Mord“, seine 1921 veröffentlichte Untersuchung zu den juristischen Nachspielen politisch motivierter Morde, in der er anhand minutiös recherchierter Belege nachweisen konnte, dass die aus dem rechten Lager heraus begangenen Kapitalverbrechen nicht nur zahlenmäßig weit die von gegnerischer Seite begangenen übertrafen, sondern auch juristisch verharmlost und beinahe lachhaft milde geahndet wurden. Offizielle Untersuchungen konnten die Stichhaltigkeit seines Werkes nicht erschüttern, dafür hatte der Statistiker Gumbel zu exakt und methodisch unanfechtbar gearbeitet – ein Prinzip, das er während der kommenden Jahre, in denen er sich als unbeirrter Fürsprecher der Demokratie sowie als früher Chronist des rechten Terrors und der heimlichen Aufrüstung auch international einen Ruf erwarb, beibehielt. Außerdem trat er als Übersetzer des britischen Mathematikers und Pazifisten Bertrand Russell hervor und bereitete eine (nicht erschienene) Edition der „Mathematischen Manuskripte“ von Karl Marx vor.
Seine wissenschaftliche Karriere hatte er in all den Jahren zielstrebig vorangetrieben. Nach weiteren Studien in Berlin wurde Gumbel Privatdozent an der Universität Heidelberg, an der er sich 1923 habilitierte. Sein politisches Engagement widersprach jedoch den Gepflogenheiten des herrschenden akademischen Milieus. In mehreren Disziplinarverfahren versuchten ab 1924 gegnerische Kollegen sowie rechtsgerichtete Burschenschaften seine Universitätskarriere zu beenden. Er wurde an der Universität zur persona non grata, seine Familie wurde drangsaliert und die nationale Presse veranstaltete ein Kesseltreiben gegen ihn. Nach dem Beginn der NS-Herrschaft wurden seine Schriften verboten und verbrannt. Als erster Wissenschaftler der Weimarer Zeit verlor er schließlich – aufgrund politischer Ideale und Überzeugungen – seine Stellung an der Universität noch vor Beginn der NS-Herrschaft im Sommer 1932.
Die erste „Ausbürgerungsliste“, auf der neben noch heute prominenten Politikern und Publizisten (wie Rudolf Breitscheid, Kurt Tucholsky, Alfred Kerr, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Willi Münzenberg und Philipp Scheidemann) auch der Mathematiker Gumbel stand, wurde im NS-Jargon als Instrument bejubelt, „Volksverräter aus dem deutschen Volkskörper“ auszumerzen. Gumbel konnte sich ab 1933 im Exil in Frankreich eine neue, auch akademische, Existenz aufbauen. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen 1940 war er gezwungen, sich in einer spektakulären Flucht über Spanien und Portugal nach New York zu retten. Seine Familie erreichte ihn erst 1941 auf Umwegen, aber immerhin unversehrt. Trotz Repressalien in der McCarthy-Ära, in der der bloße Verdacht auf kommunistische Interessen und Beziehungen zu Kommunisten ganze Karrieren ruinieren konnte, gelang es Gumbel auch in New York, sich als exzellenter Mathematiker zu etablieren. Auf die Fundamente zur Extremwertstatistik, die er während seiner Zeit in Lyon entwickelt hatte, konnte er nun aufbauen und zu einem weltweit geschätzten Spezialisten auf diesem Gebiet werden. Sein wissenschaftliches Vermächtnis, das Buch „Statistics of Extremes“ (1958) ist auch heute noch Standard, jeder Statistiker kennt die Gumbel-Verteilung und die Gumbel-Copula und kein Wasserbauprojekt (wie Staudämme oder Deiche) wird ohne seine Formeln realisiert, die auch in vielen anderen Gebieten (z.B. die Berechnungen zu Bruchstärken von Materialien, Lebenszeitverteilungen im Versicherungswesen, finanzielle Verluste im Bankwesen) gängiges Werkzeug geworden sind.
Gumbels politische Verdienste waren dagegen weitgehend vergessen worden – erst der bekannte Jurist, Schriftsteller und Kinderbuchautor Heinrich Hannover hat sich in den Sechzigerjahren, noch im persönlichen Austausch mit Gumbel, im Rahmen rechtshistorischer Studien zur Weimarer Republik mit seinem Wirken auseinandergesetzt. Bis in die Neunzigerjahre, als einige wenige Untersuchungen zu Gumbel erschienen, gefolgt von sporadischen weiteren Studien bis in die Gegenwart, ist er damit ein Rufer in der Wüste geblieben und das, obwohl (oder gerade weil?) Gumbel und seine Leistungen in beiden Bereichen nie kontrovers diskutiert wurden, sondern stets einhellig die modellhaften Qualitäten seiner Professionalität und seiner Courage gerühmt wurden.
Als Gumbel 1966 starb, trauerte die transatlantische Fachwelt um einen exzellenten Kollegen. In Deutschland dagegen war er, auf den man stolz hätte sein können, weil er aufrecht geblieben war, als andere sich unter der NS-Ideologie krümmten, fast vergessen.